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Wenn der Wohnort über Teilhabechancen entscheidet

Der Teilhabeatlas zeigt: Die Teilhabechancen junger Menschen hängen stark vom Wohnort ab. Wie Bildung gerechter werden kann – und welche Rolle unternehmerisches Denken dabei spielt.

Porträt von Ellen Wallraff und Johanna Okroi

Wollen Teilhabe neu denken: Ellen Wallraff (links) und Johanna Okroi engagieren sich für mehr Bildungsgerechtigkeit und stärken junge Menschen mit unternehmerischem Denken. Fotos: DKJS/Sophie Marschner, DKJS/privat     

Wie sehr beeinflusst der Wohnort die Chancen junger Menschen in Deutschland? Der neue Teilhabeatlas, der den Fokus erstmals auf auf Kinder und Jugendliche richtet, liefert dazu Antworten – basierend auf umfangreichen Datenanalysen und persönlichen Begegnungen vor Ort.

Gemeinsam mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) und der Wüstenrot Stiftung hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung alle 400 Kreise und kreisfreien Städte unter die Lupe genommen. Analysiert wurden messbare Faktoren wie Kinderarmut, der Anteil der Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss oder die Erreichbarkeit von Grundschulen und Bushaltestellen. In manchen Regionen verlassen bis zu 15 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss, in anderen sind es nur drei. Ähnlich groß sind die Unterschiede bei der Kinderarmut – von über 30 Prozent im Ruhrgebiet bis unter vier Prozent im ländlichen Süden.

Doch Teilhabe lässt sich nicht nur in Zahlen fassen. In acht ausgewählten Regionen, die statistisch besonders stark voneinander abweichen, wurde nachgefragt: Was sagen junge Menschen selbst über ihr Leben? Was brauchen sie für ein gutes Aufwachsen, für Selbstbestimmung und echte Teilhabe?

Im Interview erklären Johanna Okroi, Sozialwissenschaftlerin und Referentin für Wirkung und Entwicklung bei der DKJS, und Ellen Wallraff, Leiterin des DKJS-Programms Startup Zukunft!, wie unternehmerisches Denken Teilhabe fördern kann und warum Bildung echte Selbstwirksamkeit ermöglichen muss, gerade für junge Menschen mit erschwerten Startbedingungen.

 

Was sind zusammengefasst die Kernergebnisse aus dem Teilhabeatlas – und was hat Sie daran am meisten überrascht?

Johanna Okroi: Der Teilhabeatlas zeigt deutlich: Die Teilhabechancen junger Menschen in Deutschland hängen stark vom Wohnort ab. In manchen Regionen verlassen bis zu 15 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss – in anderen sind es nur drei Prozent. Auch bei der Kinderarmut gibt es gravierende Unterschiede: Während sie in Teilen des Ruhrgebiets bei über 30 Prozent liegt, sind es in Süddeutschland teils unter vier Prozent.

Überrascht hat mich, wie groß diese regionalen Unterschiede tatsächlich sind – vor allem angesichts des politischen Ziels gleichwertiger Lebensverhältnisse. Und zugleich zeigt der Teilhabeatlas: Trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen haben junge Menschen überall sehr ähnliche Bedürfnisse. Sie wünschen sich attraktive Freizeitmöglichkeiten, Beteiligungsformen und mehr Selbstbestimmung – etwa durch gute Mobilität oder kostenlose Angebote, damit sie unabhängig von der Unterstützung ihrer Eltern am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Für uns als Stiftung stehen die Interessen von jungen Menschen im Vordergrund. Deshalb setzen wir uns dafür ein, sie zu beteiligen – in Schule, Kommune und Politik.

 

Was kann Bildung hier konkret beitragen?

Johanna Okroi: Bildung ist ein zentrales Element von gesellschaftlicher Teilhabe. Der Teilhabeatlas reiht sich hier in andere Studien ein und zeigt erneut Ungleichheiten auf. Es gibt mehrere Ansätze, um im Bildungsbereich mehr Raum für die Selbst- und Mitbestimmung junger Menschen zu schaffen. Wir empfehlen, Schulen als Ort echter Beteiligung zu etablieren. Schulen sollten Orte sein, an denen junge Menschen mitentscheiden können – über Inhalte, Strukturen und den Alltag vor Ort. Das gelingt bislang punktuell, aber nicht flächendeckend.

Junge Menschen sind Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebenswelt. Sie wissen sehr genau, was im Bildungssystem gut läuft und was nicht – gerade deshalb sollten sie bei Bildungsfragen auf Landes- und Bundesebene aktiv eingebunden werden.

Ein weiterer Hebel liegt für uns in der Entrepreneurship Education. Dieser praxisorientierte Bildungsansatz befähigt dazu, Ideen zu verwirklichen und in die Tat umzusetzen. Er fördert Kreativität, Teamfähigkeit, Problemlösekompetenz und Selbstwirksamkeit – also genau die Fähigkeiten, die junge Menschen brauchen, um ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Bildung sollte jungen Menschen nicht nur Wissen vermitteln, sondern ihnen ermöglichen, ihr Umfeld aktiv mitzugestalten.

 

Ist Entrepreneurship Education also ein Instrument, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen?

Ellen Wallraff: Entrepreneurship Education stärkt junge Menschen – vor allem, wenn sie nicht auf Gründung oder wirtschaftliche Innovation verengt wird. Entscheidend ist die Haltung: eigene Ideen entwickeln, Verantwortung übernehmen, das Umfeld aktiv gestalten. Wer das lernt, gewinnt Selbstvertrauen und die Fähigkeit, die eigene Zukunft selbstbestimmt zu gestalten.

Aber: Die Verbesserung von Teilhabechancen lassen sich nicht allein auf individueller Ebene lösen. Dafür braucht es gezielte Investitionen in Regionen, in denen es an Ressourcen mangelt. Bildungskonzepte wie Entrepreneurship Education sind ein Baustein – sie müssen jedoch mit strukturellen Maßnahmen verknüpft werden. Bisher erreichen bestehende Angebote bei Weitem nicht alle jungen Menschen; auch deshalb, weil viele Formate häufig zu abstrakt sind und damit jene Jugendlichen aus dem Blick verlieren, die ohnehin schon mit strukturellen Benachteiligungen zu kämpfen haben. Wenn wir wirklich Bildungsgerechtigkeit fördern wollen, dann braucht es niederschwellige Zugänge, einfache Formate – vor allem in den Regionen, in denen Teilhabechancen geringer sind. Wir sollten Entrepreneurship Education konsequent von den Lebensrealitäten der Jugendlichen her denken – und gezielt auch die mitnehmen, die bisher kaum erreicht werden.

 

Es kommt also darauf an, was unter Entrepreneurship Education verstanden wird?

Ellen Wallraff: Ja, absolut. In der deutschen Diskussion ist der Begriff noch stark mit wirtschaftlichem Unternehmertum verbunden – also Start-ups, Innovation, Gründung. Das ist ein Teil davon, aber aus unserer Sicht greift das zu kurz. Wenn wir von Entrepreneurship sprechen, meinen wir vor allem eine stärkeorientierte und ermutigende Haltung, die befähigt, aktiv zu werden, Verantwortung zu übernehmen und eigene Ideen umzusetzen – und zwar nicht nur im wirtschaftlichen, sondern genauso im gesellschaftlichen, kulturellen oder persönlichen Kontext.

Dieses breitere Verständnis sollten wir stärken. Viele Programme und Fördermittel konzentrieren sich auf den Hochschulbereich und Studierende als Zielgruppe. Das ist legitim. Aber wenn wir alle Kinder und Jugendlichen erreichen wollen, müssen wir Entrepreneurship Education anders denken: niederschwelliger, lebensweltbezogen und je nach Zielgruppe auch unterschiedlich ausgerichtet. Es macht einen Unterschied, ob ich mit Jugendlichen an Berufsschulen arbeite, an Gymnasien oder in strukturschwachen Regionen. Genau darin liegt die Herausforderung – und gleichzeitig die Chance, das Konzept so weiterzuentwickeln, dass es wirklich Bildungsgerechtigkeit unterstützt.

 

Gibt es Regionen oder Projekte, in denen das schon erfolgreich geschieht?

Johanna Okroi: Ja, zum Beispiel das Programm Startup Ausbildung!, das wir gerade in Hamburg und Niedersachsen pilotieren. Hier führen wir Workshops an berufsbildenden Schulen durch und wenden dabei den didaktischen Ansatz der Entrepreneurship Education an. Unsere Zielgruppen sind neben Auszubildenden auch Schülerinnen und Schüler am Übergang zwischen Schule und Beruf, die häufig über geringe formale Bildungsabschlüsse verfügen. Das Besondere: Wir denken den Ansatz bewusst breit und aus der Lebenswelt junger Menschen.

In den Workshops entwickeln die Jugendlichen eigene Ideen, überführen diese in ein Business-Model, gestalten Prototypen und stellen ihre Projekte in einem Pitch vor. Was wir dabei beobachten, ist beeindruckend: Die Teilnehmenden zeigen ein hohes Maß an Kreativität, Mut und Eigeninitiative – häufig auch zur Überraschung der Lehrkräfte. Erste Evaluationsergebnisse deuten darauf hin, dass sich zentrale Zukunftskompetenzen wie Problemlöse- und Teamfähigkeit messbar weiterentwickeln.

Ellen Wallraff: Spannend ist hierbei der Blick ins Ausland: Wir waren kürzlich mit einer Delegation in Österreich, wo Entrepreneurship Education seit einigen Jahren strategisch aufgebaut und durch einen nationalen Aktionsplan vorangetrieben wird. Hier konnten wir mit vielen Expertinnen und Experten darüber diskutieren, wie Entrepreneurship Education im Bildungssystem verankert werden kann. Auch in Deutschland könnten wir von einem solchen strategischen Vorgehen profitieren. Wir als Stiftung haben dazu ein Inspirationspapier veröffentlicht, mit dem Ziel, die Diskussion über eine breitere, gerechtere Umsetzung in Deutschland weiter voranzubringen. Denn: Entrepreneurship Education kann für junge Menschen ein echter Möglichkeitsraum sein – ein empowernder Ansatz, der Mut macht, Verantwortung zu übernehmen und Gestaltungsspielräume zu nutzen. Wenn es gelingt, diesen Bildungsansatz flächendeckend in unserem Bildungssystem zu verankern, wäre das ein wichtiger Schritt hin zu mehr Teilhabe. 

Zum Teilhabeatlas

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